Tages-Anzeiger vom 06.10.2005
«Nicht das Recht zu versagen»
«Ich glaube daran, dass wir gegen Frankreich gewinnen können»: Alex Frei.
Alex Frei ist der Mann der Tore. 22 hat er für die Schweiz in erst 38 Einsätzen erzielt. Vor dem Spiel gegen Frankreich erzählt er, wie er ist, denkt und fühlt.
Mit Alex Frei sprachen Thomas Schifferle und Fredy Wettstein, Feusisberg
Alex Frei, wie sehr sind Sie überzeugt, dass sich die Schweiz für die WM 2006 qualifiziert?
Es ist wie im Tennis mit einem doppelten Matchball. Ich bin sogar überzeugt, dass es am Samstag mehr oder weniger entschieden ist: Ich glaube daran, dass wir gegen Frankreich gewinnen können, und ich glaube nicht daran, dass Irland auf Zypern gewinnt. Aber man soll ja nicht gross rechnen. Wir sind Erster, und wir haben eine Mannschaft, die eine gute Mischung hat. Seit ungefähr zwei Jahren haben wir keine Big-Point-Spiele verloren. Das stimmt mich zuversichtlich.
Allerdings hat die Schweiz seit 1993, als sie Italien in Bern 1:0 bezwang, nie mehr gegen eine so genannt grosse Mannschaft gewonnen.
Nicht mehr gewonnen . . .?
Ja.
Ich habe immer gesagt, dass Frankreich der grosse Favorit in dieser Gruppe ist, mit oder ohne Zidane. Ich habe auch immer gesagt, dass die Schweiz von zehn Spielen gegen Frankreich acht verliert. Aber in dieser Rechnung fehlen zwei Spiele. Irgendwann wird es der Fall sein, dass die Schweiz gewinnt, weil sie Qualität hat. Am Samstag haben wir die Chance dazu.
Denken Sie gar nicht erst an die Möglichkeit, dass die Schweiz gegen Frankreich auch verlieren kann?
Ich erlaube mir, zu sagen, dass wir den Komplex von früher abgelegt haben. Wir haben eine Generation von Spielern, die an der U-21-EM im eigenen Land Dritte wurden, wir haben Spieler, die früh ins Ausland gegangen sind und Erfahrungen gesammelt haben. Ich selber bin ohnehin nicht der Typ, der sich überlegt, was ist, wenn . . . Ich gehe davon aus, dass es so ist.
Was? Dass sich die Schweiz qualifiziert?
Kaum jemand hätte vorausgesagt, dass wir zwei Runden vor Schluss der Qualifikation Erste sind.
Das hätten auch Sie nicht erwartet?
Ich habe erwartet, dass wir vorne mitspielen.
Was macht diese Nationalmannschaft so stark?
Es sind mehrere Faktoren, die zusammenspielen. Erstens denken wir nicht mehr, dass wir die kleinen Schweizer sind. Zweitens haben wir einen Trainer, der es verstanden hat, eine gute Mischung zu finden, nicht nur spielerisch, sondern auch charakterlich. Es ist in einer Mannschaft nicht immer einfach, eine gute Harmonie zu haben. Und drittens haben uns die Resultate geholfen. Aber die Harmonie stimmt nicht nur, weil die Resultate stimmen. Wir kommen alle gerne zur Nationalmannschaft und freuen uns darauf.
Köbi Kuhn sagt, die guten Resultate seien die Folge der Stimmung.
Das sage ich ja auch. Nehmen Sie ein Beispiel: Ich habe mit Rennes neun Spiele gemacht, ein Tor geschossen, für mich ist das, ich muss ganz ehrlich sein, eine Katastrophe.
Und was heisst das? Dass Sie trotzdem nicht an sich zweifeln?
Überhaupt nicht. Ich finde bei Rennes den Tritt nicht, aber das macht mich bei der Nationalmannschaft nicht unsicher. Ich habe hier ein ganz anderes Gespür. Wenn ich den Samstag vor Augen habe, das ausverkaufte Stadion, Frankreich, ein ganzes Volk, das von uns etwas erwartet - da hast du gar nicht das Recht zu versagen. Das Versagen wird aber nicht daran gemessen, ob man ein oder kein Tor erzielt hat, sondern es geht darum, jedem zu zeigen, dass man alles versucht hat.
Was ist Ihr Anteil, dass die Gruppe funktioniert?
Ich bin nicht der Typ, der sich mit seinen Worten in den Vordergrund stellt. Wenn jemand sagt, der Alex ist ein Leader oder die Leader-figur, dann ist das nicht der Fall, weil ich etwas Blödes sage oder sonst etwas mache. Man kommt nur durch Leistung in seine solche Rolle. (Pause) Aber das ist eigentlich eine Frage, die man dem Trainer oder vielleicht Ricci (Cabanas) stellen muss, der mit mir das Zimmer teilt.
Andererseits sind Sie ja nicht einer, der auf dem Maul sitzt . . .
(unterbricht) . . . ja, aber für mich ist der Unterschied: Wenn man mich fragt, bemühe ich mich, eine Antwort zu geben, die auch Hand und Fuss hat. Ich bin nicht einer, der einfach etwas schwatzt. Wenn ich, wie jetzt eben, einen Interviewtermin habe, bereite ich mich darauf vor. Das gehört zu meinem Job.
Was für ein Typ ist Alex Frei?
Wie soll ich das sagen? (Pause) Ich versuch es kurz und bündig: eine zielorientierte Person. Ein Typ, der Ziele hat und weiss, was er will.
Ist es übertrieben zu sagen: Alex Frei ist ein Einzelgänger, der sich in einer Gruppe wohl fühlt?
(Schweigt lange) Nehmen wir ein Beispiel nach der EM 2004, dann versteht man vielleicht meine Person etwas. Ich war damals jedem Einzelnen dankbar, der mir geholfen hat, und das waren einige, Familie, Bekannte, Freunde, die mir den Rückhalt gegeben haben. Eines Tages . . .
. . . kurz nach der Rückkehr aus Portugal?
. . . ja, ich setzte mich ins Auto, fuhr in den Wald und rannte zwei Stunden. Ich war völlig zerstört, in einem grossen Loch, es ging mir schlecht. Beim Rennen sagte ich mir: Alex, du hast zwei Möglichkeiten. Entweder zerbrichst du an allem, und dann wird es so (zeigt es mit einer Handbewegung) nach unten gehen. Oder du kämpfst. Ich ging aus dem Wald und sagte mir: Du willst kämpfen. Damit war für mich alles verarbeitet.
Dabei hat Ihnen wirklich keiner geholfen?
Ich habe das nur mit mir selber ausgemacht. Ich habe alles, was ich in meinem Leben erfahre, gute Spiele, schlechte, irgendwelche Erlebnisse, immer selber verarbeitet. Ob das gut ist . . .? (bricht ab)
Das Bild des Einzelgängers ist also nicht ganz falsch?
Nein, ist es nicht. Ob das gut ist oder nicht, weiss ich nicht. Für mich hat es bis jetzt gestimmt.
Wie haben Ihre Teamkollegen nach der Spuckattacke gegen England überhaupt reagiert?
Grundsätzlich will ich eigentlich darüber gar nicht mehr reden.
Uns interessiert nur, wie die Gruppe in einem solchen Fall funktioniert.
Ich spürte immer den nötigen Rückhalt. Jeder reagierte wieder anders. Aber ich will gar nicht mehr darüber reden. Um die Frage nach dem Typ Alex Frei zu beantworten, will ich höchstens noch eines anfügen. Es hat für mich immer diese Reihenfolge gegeben: Du fällst hin du kämpfst, und du stehst wieder auf. So funktioniere ich.
Wie haben Sie sich verhalten, als Pascal Zuberbühler nach den Spielen gegen Israel und in Zypern aus ganz anderen Gründen in die Kritik kam?
Ich fand es einfach schade. Fehler macht jeder Mensch, aber Pascal, der doch alles macht für seinen Job, der schon einiges erreicht hat, hat so etwas nicht verdient.
Er selbst sagte, es sei sensationell gewesen, wie die Mannschaft in Zypern in der Pause auf seinen grossen Fehler beim Ausgleich reagiert habe.
(lacht) Dazu kann ich nichts sagen (lacht noch lauter). Ich habe immer noch mein linkes Bein auf dem Platz gesucht . . . Nein, ohne Witz, ich lag irgendwo in einer Ecke, und alle machten irgendetwas mit meinem Bein, nachdem ich von diesem Zyprioten so brutal gefoult worden war. Ich bekam darum in der Kabine nichts mit, hörte auch Herrn Kuhn nicht, und ging wieder auf den Platz, als der andere pfiff.
Aber es ist bezeichnend, wie die Mannschaft auf Rückschläge reagiert.
Wir wollen uns wehren, wir zeigen - «une revolte», wie sagt man . . .?
. . . aufbegehren . . .
. . . wir wollen das Negative nicht zulassen. Das ist sicher auch unsere Qualität. Wir glauben an uns und können Rückschläge verarbeiten.
Warum schiessen Sie für die Schweiz immer die Tore, wenn es entscheidend ist?
Ich weiss es nicht. Zufall? Ich kann einfach sagen, dass ich mich hier wohl fühle, dass mich die Mannschaft akzeptiert, wie ich bin. Und sie freut sich auch, wenn ich ein Tor schiesse. Meistens vor diesen Zusammenzügen gibt es ja die Fragen: Alex Frei, schiesst er ein Tor, schiesst er keines? Das hört man immer, man liest es immer, und irgendwann kann man sich selber in den Zeitungen nicht mehr anschauen. Ein Problem wäre es, wenn sich Mitspieler plötzlich zu fragen beginnen: Was macht denn der Frei immer in den Zeitungen? Aber dieses Gefühl habe ich hier nie. Wenn ich ein Tor schiesse, kommen alle zehn und springen mich an. Das zeigt, wie schön das Gefühl ist, in der Nationalmannschaft Tor zu schiessen. Es wäre auch so, wenn der Wicky ein Tor schiesst (lacht), aber der schiesst ja nie eines.
Versuchen wir den Spieler Alex Frei zu beschreiben. Kann man provokativ sagen, Ihre Stärke ist, dass Sie keine Stärken haben, abgesehen vom Toreschiessen?
%