Diese Eruption hat alle überrascht: Aus einer friedlichen Demo heraus starteten äußerst brutal vorgehende Autonome eine Orgie der Gewalt, die über Stunden die Ostseestadt lahmlegte. Zurück blieben verwüstete Straßen, zerstörte Autos und viele Verletzte - darunter mehr als 300 Polizisten.
Rostock/Schwerin - Es waren Szenen, die das Land seit langem nicht mehr gesehen hatte: Hunderte Vermummte hielten eine ganze Stadt in Atem, ließen ihrer blinden Wut freien Lauf, zertrümmerten, was ihnen in den Weg kam und attackierten mit äußerster Brutalität die Polizei.
Der Aufmarsch der Autonomen, ihre militante Uniformierung und ihr radikales Vorgehen erinnerten an die Auseinandersetzungen der frühen achtziger Jahre: Schlachten um Kernkraftwerksbaustellen, die Startbahn West am Frankfurter Flughafen oder besetzte Häuser im ehemaligen West-Berlin
Waren die beiden Demonstrationszüge durch die Stadt noch bis auf wenige Ausfälle ruhig verlaufen, verschärfte sich die Lage parallel zur Kundgebung am Stadthafen von Rostock. Auslöser der Gewalt war laut Veranstalter ein einsamer Polizeiwagen, der auf dem Demonstrationsgelände geparkt gewesen sein soll und den Ärger einiger Fanatiker erregt haben soll. Wenig später brannten Autos oder wurden demoliert, Barrikaden wurden aus umgestürzten Mülltonnen errichtet. An mehreren Stellen in der Stadt lieferten sich die Autonomen schwere Auseinandersetzungen mit der Polizei. Sie warfen Flaschen auf Polizisten und schlugen mit Stangen auf Einsatzfahrzeuge ein.
Drastischer Anstieg auf 304 verletzte Polizisten
Bei den stundenlangen Straßenschlachten wurden viel mehr Polizisten verletzt als zunächst angenommen. Erst sprach die Polizei von 146 Beamten, die behandelt werden mussten - gegen Mitternacht erhöhte sie die Zahl dann drastisch auf 304. Viele Polizisten hätten sich erst am Abend als verletzt gemeldet, insgesamt 27 von ihnen schwer. Die schwersten Verwundungen seien offene Knochenbrüche gewesen.
Über Verletzte auf Seiten der Demonstranten gibt es bisher keine Zahlen. Nach dem Einsatz von Tränengas durch die Polizei hatten sich lange Menschenschlangen an den medizinischen Versorgungsstationen gebildet. Im Fernsehen waren auch Bilder von blutenden Demonstranten zu sehen. Von 49 Menschen seien die Identitäten festgestellt worden.
Widersprüchliche Angaben gab es über die Zahl der Festnahmen. Die Polizei teilte mit, 78 Menschen seien in Gewahrsam genommen worden - von 120 sprach dagegen am späten Abend der Sprecher des Rostocker Aktionsbündnisses, Monty Schädel. Die Staatsanwaltschaft Rostock nahm gegen 13 Randalierer Ermittlungen wegen schweren Landfriedensbruchs und gefährlicher Körperverletzung auf.
Die Polizei zählte bei den Krawallen etwa 2000 Autonome. Gegen sie waren 5000 Polizisten im Einsatz. Als bereits mehr als 100 von ihnen im Steinhagel verletzt worden waren, forderten die Vertreter der Demonstrationsleitung immer vehementer per Lautsprecherdurchsagen zum Widerstand gegen die Polizei auf: "Wir demonstrieren hier friedlich, und wir lassen uns das durch die ständigen Provokationen der Polizei nicht kaputt machen", rief ein Mann den Demonstranten zu.
Beamte mit Helmen und Schlagstöcken stürmten durch die Straßen. An vielen zentralen Kreuzungen wurden Einsatzfahrzeuge postiert, Wasserwerfer aufgefahren und Tränengas eingesetzt. Zum Schluss stand die Polizei mit Räumfahrzeugen nicht mehr weit von der Bühne entfernt, wo kurz zuvor noch die bekannte Band Juli gespielt hatte.
Die Veranstalter der Großdemonstration hatten zwischenzeitlich einen vorzeitigen Abbruch der Veranstaltung erwogen, sich dann aber dafür entschieden, das Kultur- und Konzertprogramm wie geplant abzuhalten. Von den autonomen Gewalttätern distanzierten sie sich: "Es gibt keinerlei Rechtfertigung für den Angriff auf Personen", sagte Attac-Aktivist Werner Rätz. Die Auseinandersetzungen sei "überhaupt nicht im Sinne der Veranstalter".
Organisator Monty Schädel, kritisierte die Ordnungskräfte. "Die Polizei hat nicht zur Deeskalation beigetragen", sagte er in einem Gespräch mit der dpa. Es gebe aber keine Entschuldigung und keine Rechtfertigung dafür, dass eine Gruppe Autonomer ein Polizeiauto angegriffen habe. Diese Attacke wurden von beiden Seiten - Polizei und den Organisatoren der Demonstration - als Auslöser der gewalttätigen Auseinandersetzung genannt. "Die Polizei ist aber anschließend stümperhaft und unprofessionell vorgangen", sagte Schädel. Viele der mehreren zehntausend Demonstranten vor Ort waren in Panik geflüchtet.
Als ein Auto brannte, stachelte ein Redner auf der Kundgebungsbühne die militante Szene noch mit klaren Worten auf: "Wir müssen den Krieg in diese Demonstration reintragen. Mit friedlichen Mitteln erreichen wir nichts." Dann beschwor er den Geist von Genua. In der italienischen Hafenstadt hatten sich 2001 militante Demonstranten zwei Tage lang erbitterte Straßenkämpfe mit der Polizei geliefert.
Die Polizei in Rostock stürmte mehrmals auf dem Kundgebungsplatz weit in die Menschenmenge hinein, schleppte einzelne Personen heraus, während der hintere Teil der Demonstration noch auf den Platz nachdrängte. Einige Beamte wurden eingekesselt. "Die Autonomen schlagen alles kurz und klein, was sich ihnen in den Weg stellt", sagte ein Polizeisprecher. Gehwegplatten wurden herausgerissen, Parkscheinautomaten zerstört. Schwarzer Rauch zog durch die Straßen. Es spielten sich tumultartige Szenen ab, Rettungsfahrzeuge fuhren heran.
Mit den Einsätzen wurde das Bild der Veranstaltung in kürzester Zeit völlig gedreht - denn der größte Teil der Veranstaltung war friedlich. Zwei Demonstrationszüge zogen ab Mittag gegen das Treffen der Staats- und Regierungschefs der sieben führenden Industrieländer und Russlands im Ostseebad Heiligendamm durch die Stadt. Am Nachmittag trafen sich beide am Stadthafen, wo dann die Lage eskalierte.
Zunächst hatte die geringe Zahl der Teilnehmer an der Demonstration für Überraschung gesorgt. Die Organisatoren der Großdemonstration werteten ihre Veranstaltung gegen die G8 dennoch als Erfolg. Sie sprachen von etwa 80.000 Teilnehmern, die Polizei von etwa 25.000.
![Bild](http://www.spiegel.de/img/0,1020,884203,00.jpg)
![Bild](http://www.spiegel.de/img/0,1020,884106,00.jpg)
Unter dem Motto "Eine andere Welt ist möglich" waren Globalisierungskritiker aus dem gesamten Bundesgebiet und aus dem Ausland in Sonderzügen und Bussen nach Rostock gereist. Zu dem Protest hatte ein ungewöhnlich breites Bündnis von Gruppierungen aufgerufen, darunter Umwelt-, Entwicklungs- und Kirchenorganisationen ebenso wie Attac, Linkspartei und Grüne. Die Gruppen demonstrierten für eine Welthandelspolitik, die sich an sozialen Rechten, Demokratie und Umweltschutz orientiert.
Am Abend wirkte Rostock dann wie im Belagerungszustand. Umgestürzte und ausgebrannte Autos blockierten einige Straßen. Überall lagen teils kiloschwere Pflastersteine, die die Autonomen als Wurfgeschosse genutzt hatten. Anwohner lehnten geschockt an ihren Fenstern.
![Bild](http://www.spiegel.de/img/0,1020,884010,00.jpg)
![Bild](http://www.spiegel.de/img/0,1020,884143,00.jpg)