«SonntagsZeitung» vom 13.11.2005, Seite 33
Ein 2: 0 zum Träumen
Die Schweiz gewann das erste Barrage- Spiel gegen die Türkei
VON THOMAS SCHIFFERLE
BERN Die Stimmung war schon den ganzen Abend wunderbar, und als er seinem Ende nahte, erreichte sie südländische Qualität. 27 000 Schweizer winkten mit ihren Fähnchen und sangen, und kaum einen hielt es noch auf seinem Plastiksitz. Die Eruption der Gefühle hatte Valon Behrami zu verantworten. In der 86. Minute erzielte er das 2: 0 – das Tor, das von unschätzbarem Wert sein kann, das Tor, das die WM 2006 so nahe bringt. Behrami, der 20- jährige Kosovo- Albaner aus dem Tessin, ist der Kurzarbeiter im Schweizer Team. Gegen Frankreich hatte er sein Einminutendebüt gegeben, gestern schaute er 82 Minuten lang von aussen zu, bis Köbi Kuhn die Eingebung hatte und ihn auf den Platz schickte. Das Gespür liess den Coach nicht im Stich, Degen mit seinem Steilpass und Frei mit seinem Querpass besorgten schliesslich die Vorarbeit für Behramis fantastischen Einstand.
Das 2: 0 lässt die Schweizer träumen, und keine Frage: Es war verdient, mehr als verdient, weil es das Ergebnis einer aufopferungsvollen Leistung war, das Resultat einer vor allem hervorra- genden ersten Halbzeit, die Folge beherzten Widerstands danach. Eine Mannschaft erspielte und erarbeitete sich den Sieg. Und es war eine Mannschaft, die kaum Fehler machte, schon gar keine folgenschweren, und die von vielen guten Einzelspielern lebte.
Zuberbühler war im Tor der Rückhalt, den es brauchte
Zuberbühler war der Rückhalt, den es brauchte, Senderos war wieder so gut wie gegen Frankreich oder in Irland, unbeeindruckt und unüberwindbar von den Türken, Müller war stark, Degen halt der Degen, der so gerne stürmt und am Ende seinen Teil zum zweiten Tor beitrug, Magnin kämpfte auf seine bekannte Art grossartig. Vogel war nicht so dominant wie zuletzt, aber ein wahrer Organisator ohne Fehler, Cabanas machte ein gutes Spiel, unermüdlich unterwegs und mit vielen guten Pässen, Barnetta spielte eine überragende erste Halbzeit, Gygax verpasste es, mit besseren Flanken...

Jubel nach dem 1: 0: Barnetta ( rechts) umarmt den Torschützen Senderos. Streller ( 11) eilt dazu, im Hintergrund jubelt Cabanas
FOTO: DIETER SEEGER
...mehr Ertrag zu erzielen. Streller hatte seine Defizite im Abschluss, Frei hatte die eine oder andere glücklose Szene, aber am Ende zahlte sich seine grosse Qualität aus: kämpfen und rennen bis zum letzten Meter. Anders hätte es das 2: 0 nicht gegeben.
Kuhn hatte die erwartete Mannschaft nominiert, mit Gygax für den gesperrten Wicky und Streller an Stelle Vonlanthens.
Obwohl es ein unfreundlich kühler Abend war, brauchten die Schweizer nicht lange, um ihre Betriebstemperatur zu finden. Eine heikle Szene, als Alpay frei zum Schuss kam, überstanden sie dank Zuberbühlers sicherer Parade. Dann stürmten lange nur noch sie.
Sie dominierten den Gegner, überforderten ihn mit schnellen Passfolgen, mit ihrem Tempospiel, mit ihrer Unbeschwertheit, die keiner besser verkörperte als Barnetta. Zeitweise trugen sie mit fast jedem ihrer Angriffe Gefahr vor das türkische Goal. Was ihnen fehlte, war der krönende Abschluss, war die Ruhe beim letzten Pass oder die Kaltblütigkeit beim Torschuss. Gygax schoss überhastet weit neben das Tor. Streller zögerte und zögerte, bis sein Schuss geblockt werden konnte. Magnin kam nach einem Freistoss Freis zum Nachschuss, scheiterte aber an Volkan. Nach 20 Minuten schon die nächste Chance für Streller, er hatte nach dem Zuspiel von Frei allen Platz und alle Zeit, aber traf neben das Tor. Barnetta zog in die Mitte, kam aus guter Position zum Abschluss und holte nur einen Eckball heraus. Streller, wieder er, diesmal nach einem Corner, prüfte Volkan aus drei, vier Metern und hatte das Pech, dass der Türke exzellent reagierte.
Senderos verlängerte geschickt den Ball von Magnin
Zu diesem Zeitpunkt war erst die Hälfte der ersten Halbzeit vorbei. Dass es weiterhin 0: 0 stand, war das Glück der Türken. Sie selbst waren erst nach 36, 37 Minuten wieder einmal zu Zuckungen im Offensivspiel fähig, Tuncay prüfte Zuberbühler aus 20 Metern, Hakan Sükür seitlich aus kurzer Distanz, der Basler hielt weiterhin sicher. Das Schweizer Tor, das so überfällig war, fiel in der 41.
Minute. Und es war ein Produkt der Defensivspieler. Magnin zog einen Freistoss aus 40 Metern in den Strafraum, der aufgerückte Senderos verlängerte den Ball geschickt mit dem Kopf in die entfernte tiefe Ecke. So wie zuvor konnte es in der zweiten Halbzeit nicht weitergehen, die Schweizer mussten das Tempo reduzieren, die Türken gingen offensiv engagierter ans Werk, und doch blieb eines gleich: Gefährlich waren in allererster Linie die Schweizer. Magnin war wieder einmal weit nach vorne gestürmt, er passte perfekt zur Mitte, wo Streller völlig frei stand. Der « Stuttgarter » brachte den Ball aus fünf Metern nicht an Volkan vorbei.
Die Ambiance wurde zuweilen gereizter, der türkische Coach Fatih Terim gestikulierte wild bei jeder Aktion, Volkan provozierte die Fans hinter seinem Tor mit einer Schauspieleinlage, als Streller an ihn geraten war. Der Match gewann weiter an Intensität, an Spannung, an Dramatik. Frei verpasste einen Steilpass von Gygax um Millimeter, er wäre allein vor Volkan gestanden.
Fünf Minuten später hatte Valon Behrami seinen grossen Moment.