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31.05.2007, 10:33
Berlin: Der Schweizer ist Herthas erklärter Wunschkandidat
Gibt Favre sein Ja-Wort?
Es war einer jener vielen tristen Europapokal-Abende im Berliner Olympiastadion, die vor spärlicher Kulisse (10000 Zuschauer) ein ernüchterndes Resultat erbrachten. 0:3 hatte Hertha am Nikolaustag des Jahres 2001 gegen Servette Genf verloren, es war eine Vorführung und es war der K.o. in der 3. Runde des UEFA-Cups. Trainer Jürgen Röber, der drei Monate später seinen Posten räumen musste, trichterte seinen Profis sofort nach dem Abpfiff ein: "Vergesst dieses Spiel!"
Herthas Führung vergaß den verheißungsvollen Auftritt Servettes nicht - und verfolgte fortan die Karriere des Gäste-Trainers Lucien Favre sehr genau. Jetzt könnte sich der Kreis schließen: Favre (49), inzwischen mit durchschlagendem Erfolg in Diensten des FC Zürich, ist Berlins Wunsch-Kandidat für die Besetzung des Trainerstuhls. Am vergangenen Freitag verhandelten Hertha-Manager Dieter Hoeneß und Michael Preetz (Leiter der Lizenzspielerabteilung) mit dem Schweizer Meistercoach in Zürich. Tags zuvor war Preetz Augenzeuge des eidgenössischen Saisonfinals, als der FC Zürich mit einem 2:0 gegen Grasshoppers den Rivalen Basel auf Abstand hielt und den Titel verteidigte. Am Dienstag flog Ex-Nationalspieler Favre (24 Einsätze) nach Berlin. Nach diesem Gespräch rechnet Hertha mit einer Zusage des Umworbenen - allerdings stand das Ja-Wort des als zuweilen zögerlich geltenden Favre bis zum Mittwochabend noch aus. Eine Klausel ermöglicht es ihm, für 200000 Euro aus seinem bis 2008 datierten Vertrag in Zürich auszusteigen. Zudem hat er das Wort seines Klub-Präsidenten Ancillo Canepa, ihn bei einem attraktiven Angebot ziehen zu lassen.
Interimstrainer Karsten Heine (52), der nach seiner Beförderung Anfang April mit drei Auswärtssiegen den Klassenerhalt schaffte, aber die Disziplinlosigkeiten nicht abstellen konnte, soll im Fall einer Favre-Verpflichtung zur zweiten Mannschaft zurückkehren. Wenn der Schweizer abspringt, wäre Heine (Vertrag als Amateurcoach bis 2008) wieder im Rennen. Gegen Favre zog offenbar auch der renommierte Norweger Trond Sollied (48), der seit seiner Entlassung bei Olympiakos Piräus im Dezember auf Job-Suche ist und an Pfingsten in Berlin war, den Kürzeren. Unterschreibt Favre, ist er in Herthas Bundesliga-Historie der dritte ausländische Coach - nach Pal Csernai (Ungarn, November 1990 bis März 1991) und Huub Stevens (Holland, Juli 2002 bis Dezember 2003), die beide scheiterten. Er überzeugt Herthas Bosse aus mehreren Gründen.
Seine Erfolge: Als Aktiver galt er als brillanter Techniker, wurde 1983 Fußballer des Jahres in der Schweiz und 1985 Meister mit Genf. Als Trainer gewann er 2006 und 2007 mit dem FC Zürich die Meisterschaft, 2001 (mit Genf) und 2005 (mit Zürich) den Pokal. Mit Yverdon-Sport stieg er 1999 in die Nationalliga A auf. Am Dienstag wählte ihn eine Experten-Jury bei der 10. Nacht des Schweizer Fußballs in Bern zum Trainer des Jahres - wie schon 2006. Favre war wegen seines Berlin-Trips verhindert.
Seine Akribie: Favre gilt als detailversessener Taktik-Tüftler und Perfektionist, korrigiert im Training immer wieder Spielzüge, analysiert nächtelang Video-Aufzeichnungen. Einen "unendlich Unbefriedigten" nannte ihn Ex-Servette-Profi Sebastién Fournier (1996/97 beim VfB Stuttgart) einst.
Sein Händchen für Talente: Der Kader des FC Zürich war nicht nur deutlich preiswerter als der des Rivalen Basel, sondern auch jünger. Mit Dzemaili, Margairaz, Inler oder von Bergen formte Favre zahlreiche Talente - in Berlin soll ihm das bei Boateng & Co. ebenfalls gelingen.
Kritiker sehen indes zwei Probleme: Der in der französischsprachigen Schweiz aufgewachsene Favre spricht ordentlich deutsch, ist aber mit den Feinheiten der Sprache nicht vertraut. Zudem brauchte er auf allen Stationen Zeit, ehe sich Erfolge einstellten - in der Medienstadt Berlin bekommt er diese Zeit sicher nicht.
Steffen Rohr