Die neue Künstlichkeit wird das Spiel verändern
Der Kunstrasen darf im Weltfussball eingesetzt werden
VON UELI KÄGI
ZÜRICH Der Schlag trifft Fussball- Romantiker ziemlich genau mitten im Gesicht. Fertig Rasen gerochen und Gras gefressen. Der Kunstrasen kommt. Weltund europäischer Verband haben der Austragung wichtiger Wettbewerbspartien auf künstlicher Unterlage ab nächster Saison zugestimmt, sie schliessen nur Endrunden an WM und EM sowie Europacup- Finalspiele davon aus. Noch.
Schweizer Verband und Liga übernahmen den Entscheid diese Woche. « Die Zukunft liegt im Kunstrasen » , sagt Fifa- Präsident Sepp Blatter und lässt keinen Zweifel, wie sehr er hinter der Idee steht. Fifa und Uefa begründen ihre Zustimmung mit dem hohen Qualitätsstandard der jüngsten Produkte. Die Polyethylen- Halme sollen die Probleme lösen bei klimatisch schwierigen Bedingungen sowie in den hochgezogenen Stadien, die dem Naturrasen zu wenig Licht und Frischluft bieten und ihn sterben lassen. Gemeinden und Klubs bietet die Technologie neue Auslastungsmöglichkeiten. Die Fifa setzt in ihrem Entwicklungsprogramm « Goal » längst auf Kunstrasen.
Der Entscheid der Verbände ist auch Zugeständnis an die Stadionbetreiber. Viele Arenen können nur Gewinn bringend betrieben werden, wenn sie multifunktional ausgerichtet sind. In Basel liegt der dritte Naturrasen seit der Stadioneröffnung 2001. Die St.- Jakob- Park- Betreiberin Basel United wird auf den Einbau eines Kunstrasens verzichten, solange die Ausbauarbeiten auf 40 000 Zuschauer nicht abgeschlossen sind ( 2007). Geschäftsführer Christian Kern aber sagt: « Wir können das vergrösserte Stadion nicht allein durch Fussball finanzieren. » Kurzfristige Ansetzungen von Konzerten und Alternativveranstaltungen müssen möglich sein. Deshalb wird im St.- Jakob- Park für 1 bis 1,2 Millionen Franken ein Kunstrasen verlegt u2013 auf Grund der aktuellen Reglemente wohl nach der EM 2008. « Die Aufwendungen wären mit fünf zusätzlichen Grossanlässen in zwei Jahren amortisiert » , glaubt Kern. Auf bis 250 000 Franken jährlich schätzt er den Spareffekt, weil die Rasenpflege wegfallen würde. Im Stade de Suisse ( siehe unten stehendes Interview) wird der Teppich im Winter eingebaut. Im neuen GCCampus in Niederhasli verlegt die Zürcher Gartenbaufirma Spross derzeit einen mit speziellem Schaumstoffkissen gefederten Kunstrasen für rund 100 Franken pro Quadratmeter.
Die Fifa verkauft ihr Qualitätslabel für 450 000 Franken
Testprojekte in Salzburg, Moskau, Örebro ( Sd), Dunfermline ( Scho) und Almelo ( Ho) sowie die 2003 teilweise auf Kunstrasen ausgetragene U- 17- WM in Finnland haben dem Plastik den Weg zur Zulassung geebnet u2013 allen Klagen zum Trotz. Salzburger Spieler jammern nach 90 Minuten über grosse Müdigkeit und bei Trockenheit über den stumpfen Boden. Kurt Jara, ab Sommer Trainer des Teams, will den Teppich rausreissen lassen, weil er bei der Verpflichtung älterer Spieler ein « Hemmschuh » sei. Kunstrasen gilt als schnelle Unterlage. Profis berichten, Steilpässe seien kaum mehr zu timen, der Ball werde fast nur noch in den Fuss gespielt. Das künstliche Grün bringt den Technikern Vorteile. Kunstrasen ist auch ein Generationenproblem. Kunstrasen der höchsten Qualität ist nicht zu vergleichen mit den betonharten sandbestreuten Plätze der 80er- und frühen 90er- Jahre, die sich bei Stürzen und Tacklings durch die Haut fressen.
Gegner haben sie trotzdem, sie sind im Profibereich in der grossen Mehrheit. Ottmar Hitzfeld gehörte zu ihnen, bis er die neusten Produkte kennen gelernt hat: « Die Qualität des Kunstrasens hat sich stark verbessert » , sagt der ehemalige Bayern- Trainer, « weil er weicher und flexibler geworden ist. Dennoch kann ich mir nicht vorstellen, dass in Zukunft eine WM oder EM auf Kunstrasen ausgetragen wird. » Christian Gross wehrt sich in Basel gegen die neue Künstlichkeit, er befürchtet eine zu starke Veränderung des Spiels.
Mit der neuen Generation weniger Verbrennungen und Schürfungen
Entscheidend für die Bespielbarkeit des Rasenteppichs ist der elastische Unterbau ( siehe Grafik). Mit ausführlichen Tests prüft die Fifa die Produkte auf Abnutzung, Oberflächenbeschaffenheit, Tempo des Balles, Springverhalten, Verletzungsgefahr. Eingeführt hat der Weltverband zwei Qualitätsstandards. 1- Stern- Rasen genügen ( noch) für WM- Qualifikationsspiele. Die Uefa verlangt die höhere 2- Sterne- Qualität. Der Kunstrasen ist für den Weltverband auch Geschäft. Das Label « Fifa- Recommended » müssen die Hersteller für 450 000 Franken einkaufen und dürfen dafür ihre Produkte während drei Jahren 30- mal verlegen.
Aus medizinischer Sicht dürfte der Einsatz von Kunstrasen neuerdings unbedenklich sein. Unübliche Verbrennungen und Schürfungen bleiben aus. Die bisher von der Fifa gesammelten Daten sowie Vergleichswerte aus den USA wiesen nicht auf ausserordentliche Verletzungsmuster und Häufigkeit hin, sagt der Zürcher Fifa- Arzt Jiri Dvorak von der Schulthess Klinik. Drei bis fünf Jahre weitere Jahre benötigt er allerdings, um von einem wissenschaftlichen Langzeit- Forschungsprogramm sprechen zu können.
Entscheidend für die Qualität des Kunstrasens ist die Pflege. Bei Trockenheit garantieren nur gegen 15 000 Liter Wasser einen genügenden Feuchtigkeitsgrad für ein flüssiges Spiel und normales Verletzungsrisiko. Die Rasenheizung bietet auch bei tiefen Temperaturen eine Spielmöglichkeit.
Sieben Jahre lang soll ein Spitzenprodukt bei einer durchschnittlichen Auslastung von 40 Stunden pro Woche höchsten Ansprüchen genügen. Weil der gemeine Fussballer das Gras riechen will, wird in Moskau gar ein Parfüm über den Platz gesprüht. Der Kunstrasen ist da. Es ist ein Kopfentscheid. Das Herz klopft anders.

Kostet rund 100 Franken pro Quadratmeter: Marcel Spross begutachtet den Kunstrasen, der im neuen GC- Campus in Niederhasli verlegt wird
FOTO: PETER LAUTH