Hier ein Artikel auf deutsch:
Quelle FAZHBO-Serie u201EThe Wireu201C
u201EBeste Show in der Geschichte des TVu201C
Von Lars Jensen
"The Wire": Bislang hat noch kein deutscher Sender Interesse
10. Februar 2008 An der Ecke East Madison Street und Greenmount Avenue, drei Minuten von Baltimores Rathaus entfernt, möchte ich aussteigen, mir die Drehorte der Fernsehserie u201EThe Wireu201C anschauen, doch mein Taxifahrer rät, die Türen geschlossen zu halten: u201EJunge, bist du nicht ganz bei dir? Du siehst doch, was hier los ist.u201C Die meisten Häuser haben statt Glas Bretter in den Fenstern, an jeder Straßenecke lungern drei, vier schwarze Teenager in Daunenjacken, belauern sich gegenseitig und gucken den Autos nach - in der Hoffnung, ein Kunde hielte an, um Drogen zu kaufen. Dann zählt der Taxifahrer die Morde auf, die hier in den vergangenen Wochen passiert sind: sechs Tote, darunter ein Weißer, der am Geldautomaten umgelegt wurde. An der Ecke East Madison und Greenmount sieht es an einem gewöhnlichen Tag kein bisschen freundlicher aus als in der Fernsehserie, die das Getto von Baltimore, Maryland berühmt gemacht hat.
Vor kurzem ist die fünfte und letzte Staffel von u201EThe Wireu201C beim amerikanischen Bezahlsender HBO angelaufen, und nachdem die Öffentlichkeit die Serie vier Jahre lang ignoriert hatte, brach in den vergangenen Monaten ein Hype aus, der sogar den Wirbel um u201EThe Sopranosu201C in den Schatten stellt. Die Sendung begleitet Drogendealer und Polizisten, Hafenarbeiter und Lehrer, Eltern und Immobilienmakler, Politiker und Journalisten - drei Dutzend Hauptfiguren - bei ihrem Überlebenskampf in einer postindustriellen Großstadt. Die Kritiker schwärmen: u201EBeste Serie seit Jahrzehntenu201C (u201ENew York Timesu201C); u201Ebeste Show in der Geschichte des amerikanischen TVu201C (u201EPhiladelphia Inquireru201C); u201Ewird als das beste Drama, seit es Fernsehen gibt, erinnert werdenu201C (u201ESan Francisco Chronicleu201C); u201EHBOs Meisterwerk - eine TV-Revolutionu201C (u201EEntertainment Weeklyu201C).
Zwischen Dostojewskij, Dickens und Tolstoi
u201ETimeu201C entschuldigte sich bei seinen Lesern dafür, nicht schon früher über u201EThe Wireu201C berichtet zu haben: u201EWir haben versagt.u201C Das Intellektuellenmagazin u201EAtlantic Monthlyu201C empfiehlt, die DVDs zwischen Dostojewskij, Dickens und Tolstoi einzusortieren, und der u201ENew Yorkeru201C begleitete den Erfinder der Serie, David Simon, monatelang für einen elfseitigen Artikel, in dem selbst das Weihnachtsmahl seiner Eltern beschrieben wird.
Doch Superlative greifen zu kurz, um zu beschreiben, wie großartig diese Serie ist. David Simon, der bis zum Ende des Autorenstreiks keine Interviews gibt, erklärte in u201ETimeu201C: u201EDie Show handelt vom Niedergang eines Imperiums. In unserem System sinkt an jedem Tag der Wert eines jeden Individuums - egal ob Dealer, Staatsanwalt, Journalist. Dies ist das Amerika, für das wir bezahlt haben. Nicht mehr und nicht weniger.u201C
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Die Stadt ist der Star
Niemals würde er sein Werk mit Dostojewskij vergleichen, doch von Anfang an strukturierte er das Skript, als wolle er Weltliteratur schaffen. u201EWir haben die Griechen geplündert: Sophokles, Aischylos, Euripides, aber nicht den Gute-Laune-Bären Aristophanes.u201C Eine TV-Serie, die alle Regeln bricht: Die einstündigen Episoden haben keine Spannungsbögen, sondern funktionieren wie Kapitel in einem Buch, die Handlung geht unfassbar langsam voran.
u201EThe Wireu201C verzichtet auf comichafte Heldenfiguren wie den Agenten Jack Bauer in u201E24u201C oder ein seine Umwelt überstrahlendes Kraftzentrum wie Tony Soprano. Mehr als dreißig gleichberechtigte Charaktere führen vor, wie ein gescheitertes System Menschen in verheerende Abhängigkeiten treibt. Oftmals scheinen Mörder und Dealer menschlichere Vorstellungen von Moral zu haben als die Amtsinhaber, die für Recht und Ordnung sorgen sollen.
Der Star ist das verfallende Baltimore, und jede Staffel lenkt die Aufmerksamkeit auf einen Aspekt des Lebens in der Stadt: wie eine Spezialeinheit der Polizei versucht, Beweismaterial gegen eine Drogengang zu sammeln; wie der Niedergang des Hafens die weiße Mittelschicht zerstört; wie Hierarchien und persönlicher Ehrgeiz in den Institutionen jeden Fortschritt verhindern; wie die Schulen versagen; wie die Medien versagen. Kein Zuschauer könnte diesen Schwall deprimierender Vorgänge ertragen, wären Proposition Joe, Omar, The Bunk, McNulty und alle anderen Figuren nicht beseelt von einem Sinn für Humor, so trocken und herzerfrischend, wie man ihn noch nie im TV gesehen hat.
u201EIt's not TV. It's HBOu201C
Als David Simon 2001 bei HBO vorsprach, um erste Fassungen für den Piloten vorzustellen, reagierte Programmchefin Carolyn Strauss zurückhaltend. HBO verdiente üppig mit aufwendigen Eigenproduktionen wie u201EThe Sopranosu201C, u201EOzu201C und u201ESex in the Cityu201C, und der Sender war stolz darauf, sich mit mutigen Ideen von der Konkurrenz abzuheben. Der Slogan lautete: u201EIt's not TV. It's HBOu201C. Da tauchte Simon auf mit einem Konzept, das von Dealern und Polizisten handelt. u201EKrimis sind nicht HBO, sondern Fernsehenu201C, beschied ihm Strauss damals.
Daraufhin schickte Simon eine E-Mail, die die Programmchefin doch noch überzeugte: u201EHBO hat Erfolg mit Themen, an die sich das Network-Fernsehen nicht herantraut. Doch der ultimative Triumph wäre, wenn HBO das Urgenre des Fernsehens, den Krimi, so radikal auf den Kopf stellte, dass hinterher niemand mehr ,C.S.I.' oder ,N.Y.P.D. Blue' oder ,Law & Order' ertragen könnte; wenn HBO sich mit ABC oder NBC messen und ein Polizeidrama mit unerreichter Qualität liefern würde, das die Welt nicht in die Kategorien Gut und Böse vereinfacht, sondern realistischer denn je zeigt.u201C
Selbst Amerikaner brauchen die Untertitel
Niemand bringt bessere Voraussetzungen mit als David Simon, 47, um das Leben in u201EBodymore, Murdalandu201C, wie die Bewohner ihre Stadt nennen, realistisch zu beschreiben. Er hat zwölf Jahre als Polizeireporter der u201EBaltimore Sunu201C aus den Gettos berichtet, und nachdem er die Zeitung 1995 verlassen hatte, verarbeitete er seine Erfahrungen zu den Bestsellern u201EThe Corneru201C und u201EHomicideu201C, aus beiden Büchern machte er TV-Serien. Simons Partner Ed Burns, der an den meisten Episoden von u201EThe Wireu201C mitschrieb, hatte zunächst im Morddezernat des Baltimore Police Department gearbeitet und wurde dann Lehrer in einer öffentlichen Schule im Getto, bis er ausgebrannt aufgab. Die beiden hatten sich in den 80er Jahren kennengelernt, als Burns dem Reporter Simon als Informant über die Drogenszene diente.
Die Serie ist so perfekt gefilmt, ausgestattet und gecastet (in allen umfangreicheren Rollen wirken unbekannte Schauspieler, ausnahmslos brillant), wie es nur HBO gelingt. Um die Dialoge im feinsten Baltimore-Straßenslang verstehen zu können, müssen selbst Amerikaner die Untertitel einschalten, und die Schauspieler mussten eine neue Sprache lernen. Wenn es ein Genre gäbe für Serien wie u201EThe Wireu201C, müsste es wohl u201ENeo-Neorealismusu201C heißen.