Der Staat nimmt sich die Freiheit / Polizeistaat??
Verfasst: 03.01.2005, 12:59
Usem Züri Fudi Heft "FACTS":
Der Staat nimmt sich die Freiheit
Verhaftung von Basler Fussballfans am 5. Dezember am Zürcher Bahnhof Altstetten: Der Handstreich fusste auf einem Generalverdacht.
Fussballfans, Autofahrer, Raucher, Tierfreunde, Demonstranten, Festbrüder: Wer irgendwie stören könnte, gerät ins Visier von Polizei, Ordnungspolitikern und neuen Paragrafen. Vater Staat wird strenger. Wie kalt solls in der Schweiz noch werden?
Das Polizeigericht in Lausanne verurteilt eine 77-Jährige zu 8000 Franken Busse; das Delikt der alten Dame: Sie fütterte regelmässig Tauben, und das darf man in Lausanne nicht.
In Basel greift die Polizei zwei Schülerinnen auf, 13 und 17 Jahre alt; die Mädchen werden gefesselt, nackt ausgezogen, nach Drogen untersucht und dann in Einzelzellen des Gefängnisses Waaghof gesperrt. Ihr Vergehen: Es sind Sans-papiers aus Ecuador, die bei ihrer Mutter in Basel sein wollten. Die Mädchen werden umgehend ausgeflogen u2013 wo die Mutter ist, ob sie vom Verbleib ihrer Töchter erfährt, kümmert die Behörden nicht.
Glaubt man den Politikern und Beamten, erträgt unser Land ohnehin kaum mehr etwas: Die letzten Monate brachten eine Serie von Gesetzesvorstössen und Polizeiaktionen, die einen neuen, scharfen Staat zeichnen. Aufs locker-flauschige Anything goes der Neunzigerjahre folgt nun ein brüsker Backlash; es reckt sich ein staatlicher Drang zur Re-Disziplinierung der Bürger, zur Reglementierung des Alltags: Das schlägt sich in zahlreichen Detailmassnahmen nieder, oft lokal u2013 und als einzelne zu klein, um Widerstand zu wecken im Volk.
Und der Bund auferlegt den rund 800'000 Gelegenheitskiffern im neuen Verkehrsregime einen THC-Nullgrenzwert am Steuer u2013 weitgehend losgelöst von Fragen der Fahrtüchtigkeit (FACTS 47/2004). Eine Erziehungslektion via Strassenrecht, die Tausende Bürger kriminalisieren dürfte.
Viele Zurechtweisungen dieses «Da taar me nöd»-Staats geniessen Rückhalt im Volk: So die strengeren Strafen gegen Raser; so das verschärfte neue Verkehrsregime mit der 0,5-Promille-Alkohol-Limite; die vielerorts geplante räumliche Ausgrenzung von Rauchern; die ebenfalls geplante Hooligan-Datenbank; oder die lebenslängliche Verwahrung von Gewalttätern, im Februar an der Urne besiegelt. Wenn sich aber Vater Staat zum Kontrollfreak aufplustert, dann lotet er die Grenzen der Grundrechte aus u2013 auch indem er sie überschreitet. «Es besteht allgemein eine Tendenz, die Grundrechte einzuschränken», sagt der Freiburger Staatsrechts- Professor Thomas Fleiner. «Das ist ein Einfluss der USA.»
Den verwegensten Grenztest bot die Zürcher Stadtpolizei, als sie am 5. Dezember einen Zug voller Anhänger des FC Basel im Vorortsbahnhof Altstetten abfing: 427 Personen, Männer und Frauen, Knaben und Mädchen, die jüngsten 12 Jahre alt, wurden festgenommen, gefesselt, stundenlang in der Kälte stehen gelassen, verhört und laut Aussagen mehrerer Basler auch schikaniert u2013 zum Beispiel, indem die Polizisten die Gefesselten vom Gang aufs WC abhielten, mit Sprüchen wie «Mach doch in die Hose» (so zum ETH-Studenten Thomas S.* aus Zürich, zum Wirtschaftsstudenten Daniel K.* aus Basel, zum Sozialarbeiter Stefan S.* aus Allschwil BL). Der Handstreich fusste auf einem Generalverdacht: auf der Vermutung, dass Hooligans im Zug sein könnten. Wie viele der 427 Gefesselten tatsächlich eine Straftat begingen u2013 das kann die Stadtpolizei drei Wochen nach der Razzia nicht sagen.
Unschuldsvermutung? Bewegungsfreiheit? Versammlungsfreiheit? Nach der Massenverhaftung fühlte sich die «Neue Zürcher Zeitung» bemüssigt, ans Rechtsprinzip der Verhältnismässigkeit zu erinnern: «In der Politik heiligt der Zweck oft die Mittel. Wenn es um die Frage der Rechtsstaatlichkeit geht, gilt das nicht.» Und der Rechtsdozent und Presseratspräsident Peter Studer nahm die Causa zum Anlass, um der Stadtpolizei via «Sonntags- Zeitung» Nachhilfe in Staatskunde zu erteilen: «Da müssen wir im helvetischen Alltag durchsetzen, dass Sicherheit zwar zentral ist u2013 zuvorderst in der Verfassung aber die persönliche Freiheit steht.» Solche liberalen Stimmen sind seltsam selten geworden. Dafür fasziniert ein locker sitzender Polizeiknüppel Politiker aller Couleur, von links bis rechts: Die Sozialdemokratin Esther Maurer in Zürich profiliert sich ebenso als Law-and-order- Politikerin wie Freiheitsparteiler Jürg Scherrer in Biel. So finden etwa beide Polizeivorstände Gefallen an einer neuen Paragrafenwaffe gegen Aussenseiter: Rayonverbote. Wer das saubere Stadtbild stört, soll weggewiesen werden. Wer sich wann wo aufhalten darf, bestimmt die Polizei.
Auch brave Bürger kommen dran
Maurer, die eiserne Lady, möchte ab nächstem Jahr Citypflege per Wegweisungsartikel betreiben; Scherrer, auch «Sheriff Scherrer» genannt, tut das bereits u2013 gestützt auf Artikel 29b des bernischen Polizeigesetzes aus dem Jahr 1998: «Die Polizei », steht da, «kann Personen von einem Ort vorübergehend verweisen, wenn der begründete Verdacht besteht, dass sie oder andere, die der gleichen Ansammlung zuzurechnen sind, die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährden oder stören.»
Ob Randständige oder Fussballfans: Auf dem Weg zurück zur Strengschweiz zeichnet sich ein fataler Mechanismus ab. Erstens: Vater Staat will Ruhe und Ordnung; dafür sägt er, zweitens, an den Grundrechten von Abweichlern; und am Ende, drittens, kommen halt auch brave Bürger dran. So zielte das Park-Nachtverbot von Birsfelden eigentlich gegen Jugendliche, die in warmen Sommernächten am Birsköpfli feierten u2013 jetzt darf sich dort halt überhaupt kein Bürger mehr nach 22 Uhr aufhalten.
Shock and awe, Kollateralschäden inklusive. Noch im April 1998 betonte Berns damaliger Polizeivorstand Kurt Wasserfallen (FDP), der Wegweisungsartikel werde nur gegen Junkies und Dealer angewandt. Zwei Monate später fassten die ersten Alkoholiker, die im Gebiet des Berner Hauptbahnhofs herumlungerten, ein Rayonverbot. Ebenso erging es bald Gruppen von braven Pilzsammlern, die unglücklicherweise dreckige Stiefel und Hände hatten. Weggewiesen wurden auch Gassenarbeiter und fromme Helfer der Kirchen, die mit Betreuungsarbeit vor Ort das Problem an der Wurzel packen wollten. Nach Beschwerden beim Verwaltungsgericht muss die Polizei den Artikel nun bedachter einsetzen; unter anderem legten die Richter fest, wie gross eine Ansammlung von Störenfrieden sei, damit sie unters Gesetz fällt: mindestens drei Personen. Das Urteil lässt ahnen, wie wenig die Hau-ab-Politik mit Effizienz zu tun hat. Ein Dealer, der mit einem Kunden ins Geschäft kommen will, muss ihn nicht fürchten.
Politiker sind gute Menschen
«Der Schwerpunkt der Polizei-Interventionen hat sich von ihrer kriminalistischen Aufgabe hin zur Aufrechterhaltung der Ordnung verlagert», sagt die Soziologin Karin Gasser, 28; sie hat eine Studie zur Berner Wegweisungspolitik verfasst. De facto finden die Gesetzeshüter nun eine Bestimmung als öffentliche Raumpfleger, sie kümmern sich um die Einhaltung von bürgerlichen Sekundärtugenden: Sauberkeit, Ruhe, Ordnung. An den tieferen Problemen ändert das nichts u2013 und trotzdem wird ein Grundrecht jedes Schweizers verletzt, festgeschrieben in Artikel 10 der Bundesverfassung: «Jeder Mensch hat das Recht auf persönliche Freiheit, insbesondere auf [...] Bewegungsfreiheit.»
Wen fürchtet der Staat da? Rentnerinnen, die ein Herz für Tauben haben? Zwölfjährige Fussballfans? Wer sind die Menschen, die unsere Behörden mit den Junkies oder Chaoten gleich mit vertreiben?
Eine Frau wie Brenda Bähler fällt zweifellos auf. Die 36-Jährige trägt Minirock, Netzstrümpfe, ihre schwarzen Haare sind verstrubbelt. Ihr Hund u2013 eine kurzbeinige Promenadenmischung, brav an der rosa Leine u2013 weicht nicht von ihrer Seite. «Er passt auf mich auf», sagt Bähler in breitem Berndeutsch. Ihre etwas dunkle Hautfarbe ist für einen Menschen in ihrer Lage zweifellos kein Vorteil. Die Mutter stammt aus Namibia, der Vater aus dem Kanton Bern. Seit sie die Schule verliess, schlägt sie sich auf eigene Faust durch. Schon mit 20 hatte sie zwei Kinder.
Seit ein paar Wochen lebt sie auf der Gasse; ihre Wohnung musste sie im Februar aufgeben: «Bevor ich in den Knast kam.» In Hindelbank verbüsste die Frau eine mehrmonatige Haftstrafe u2013 unter anderem wegen den Wegweisungen, die ihr die Berner Polizei jedes Mal aufbrummte, wenn sie die Frau am Bahnhof ortete. An diesem Treffpunkt der so genannten Randständigen trifft sie sich mit ihren Kumpels. «Alles Leute wie ich.» Da steht man zusammen, redet oder schweigt, trinkt oder schläft. Wartet, bis der Tag vorbei ist. «Drogen sind für mich kein Thema», betont Bähler. «Alkohol? Klar. Ab und zu ein Bier, um die Seele zu wärmen.»
Niemals konnten die Wegweisungen Bähler beeindrucken, immer wieder kehrte sie zurück an den Ort, wo sie ihre «Familie » trifft u2013 was der Sprecher der Stadtpolizei Bern bestätigt: «Frau Bähler», sagt Franz Märki, «hält sich an Orten auf, die für sie verboten sind.» Eine Wegweisung folgte auf die andere, irgendwann wurden Bussen daraus, die sie mit ihren 1000 Franken vom Sozialamt niemals hätte bezahlen können. «Es gab zwar Polizisten, die einem in Ruhe liessen», sagt Bähler. «Viele allerdings schikanieren dich.» Oft wurde sie schon in Handschellen abgeführt, musste die Nacht in der kalten Zelle verbringen, wurde dermassen unsanft traktiert, dass Ärzte Verletzungen behandeln mussten. Bähler hat Atteste gesammelt, die von den Misshandlungen zeugen. Doch sie hat resigniert. «Ich muss nur den Mund aufmachen, und mir wird vorgeworfen, dass ich lüge.» Schliesslich wandelte die Justiz die nicht eingehaltenen Wegweisungen, die unbezahlten Bussen in eine Knaststrafe um. Bähler musste nach Hindelbank. «Dort kostet ein Tag den Staat 200 Franken», sagt sie. Und schüttelt den Kopf.
Der Staat nimmt sich die Freiheit
Verhaftung von Basler Fussballfans am 5. Dezember am Zürcher Bahnhof Altstetten: Der Handstreich fusste auf einem Generalverdacht.
Fussballfans, Autofahrer, Raucher, Tierfreunde, Demonstranten, Festbrüder: Wer irgendwie stören könnte, gerät ins Visier von Polizei, Ordnungspolitikern und neuen Paragrafen. Vater Staat wird strenger. Wie kalt solls in der Schweiz noch werden?
Das Polizeigericht in Lausanne verurteilt eine 77-Jährige zu 8000 Franken Busse; das Delikt der alten Dame: Sie fütterte regelmässig Tauben, und das darf man in Lausanne nicht.
In Basel greift die Polizei zwei Schülerinnen auf, 13 und 17 Jahre alt; die Mädchen werden gefesselt, nackt ausgezogen, nach Drogen untersucht und dann in Einzelzellen des Gefängnisses Waaghof gesperrt. Ihr Vergehen: Es sind Sans-papiers aus Ecuador, die bei ihrer Mutter in Basel sein wollten. Die Mädchen werden umgehend ausgeflogen u2013 wo die Mutter ist, ob sie vom Verbleib ihrer Töchter erfährt, kümmert die Behörden nicht.
Glaubt man den Politikern und Beamten, erträgt unser Land ohnehin kaum mehr etwas: Die letzten Monate brachten eine Serie von Gesetzesvorstössen und Polizeiaktionen, die einen neuen, scharfen Staat zeichnen. Aufs locker-flauschige Anything goes der Neunzigerjahre folgt nun ein brüsker Backlash; es reckt sich ein staatlicher Drang zur Re-Disziplinierung der Bürger, zur Reglementierung des Alltags: Das schlägt sich in zahlreichen Detailmassnahmen nieder, oft lokal u2013 und als einzelne zu klein, um Widerstand zu wecken im Volk.
Und der Bund auferlegt den rund 800'000 Gelegenheitskiffern im neuen Verkehrsregime einen THC-Nullgrenzwert am Steuer u2013 weitgehend losgelöst von Fragen der Fahrtüchtigkeit (FACTS 47/2004). Eine Erziehungslektion via Strassenrecht, die Tausende Bürger kriminalisieren dürfte.
Viele Zurechtweisungen dieses «Da taar me nöd»-Staats geniessen Rückhalt im Volk: So die strengeren Strafen gegen Raser; so das verschärfte neue Verkehrsregime mit der 0,5-Promille-Alkohol-Limite; die vielerorts geplante räumliche Ausgrenzung von Rauchern; die ebenfalls geplante Hooligan-Datenbank; oder die lebenslängliche Verwahrung von Gewalttätern, im Februar an der Urne besiegelt. Wenn sich aber Vater Staat zum Kontrollfreak aufplustert, dann lotet er die Grenzen der Grundrechte aus u2013 auch indem er sie überschreitet. «Es besteht allgemein eine Tendenz, die Grundrechte einzuschränken», sagt der Freiburger Staatsrechts- Professor Thomas Fleiner. «Das ist ein Einfluss der USA.»
Den verwegensten Grenztest bot die Zürcher Stadtpolizei, als sie am 5. Dezember einen Zug voller Anhänger des FC Basel im Vorortsbahnhof Altstetten abfing: 427 Personen, Männer und Frauen, Knaben und Mädchen, die jüngsten 12 Jahre alt, wurden festgenommen, gefesselt, stundenlang in der Kälte stehen gelassen, verhört und laut Aussagen mehrerer Basler auch schikaniert u2013 zum Beispiel, indem die Polizisten die Gefesselten vom Gang aufs WC abhielten, mit Sprüchen wie «Mach doch in die Hose» (so zum ETH-Studenten Thomas S.* aus Zürich, zum Wirtschaftsstudenten Daniel K.* aus Basel, zum Sozialarbeiter Stefan S.* aus Allschwil BL). Der Handstreich fusste auf einem Generalverdacht: auf der Vermutung, dass Hooligans im Zug sein könnten. Wie viele der 427 Gefesselten tatsächlich eine Straftat begingen u2013 das kann die Stadtpolizei drei Wochen nach der Razzia nicht sagen.
Unschuldsvermutung? Bewegungsfreiheit? Versammlungsfreiheit? Nach der Massenverhaftung fühlte sich die «Neue Zürcher Zeitung» bemüssigt, ans Rechtsprinzip der Verhältnismässigkeit zu erinnern: «In der Politik heiligt der Zweck oft die Mittel. Wenn es um die Frage der Rechtsstaatlichkeit geht, gilt das nicht.» Und der Rechtsdozent und Presseratspräsident Peter Studer nahm die Causa zum Anlass, um der Stadtpolizei via «Sonntags- Zeitung» Nachhilfe in Staatskunde zu erteilen: «Da müssen wir im helvetischen Alltag durchsetzen, dass Sicherheit zwar zentral ist u2013 zuvorderst in der Verfassung aber die persönliche Freiheit steht.» Solche liberalen Stimmen sind seltsam selten geworden. Dafür fasziniert ein locker sitzender Polizeiknüppel Politiker aller Couleur, von links bis rechts: Die Sozialdemokratin Esther Maurer in Zürich profiliert sich ebenso als Law-and-order- Politikerin wie Freiheitsparteiler Jürg Scherrer in Biel. So finden etwa beide Polizeivorstände Gefallen an einer neuen Paragrafenwaffe gegen Aussenseiter: Rayonverbote. Wer das saubere Stadtbild stört, soll weggewiesen werden. Wer sich wann wo aufhalten darf, bestimmt die Polizei.
Auch brave Bürger kommen dran
Maurer, die eiserne Lady, möchte ab nächstem Jahr Citypflege per Wegweisungsartikel betreiben; Scherrer, auch «Sheriff Scherrer» genannt, tut das bereits u2013 gestützt auf Artikel 29b des bernischen Polizeigesetzes aus dem Jahr 1998: «Die Polizei », steht da, «kann Personen von einem Ort vorübergehend verweisen, wenn der begründete Verdacht besteht, dass sie oder andere, die der gleichen Ansammlung zuzurechnen sind, die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährden oder stören.»
Ob Randständige oder Fussballfans: Auf dem Weg zurück zur Strengschweiz zeichnet sich ein fataler Mechanismus ab. Erstens: Vater Staat will Ruhe und Ordnung; dafür sägt er, zweitens, an den Grundrechten von Abweichlern; und am Ende, drittens, kommen halt auch brave Bürger dran. So zielte das Park-Nachtverbot von Birsfelden eigentlich gegen Jugendliche, die in warmen Sommernächten am Birsköpfli feierten u2013 jetzt darf sich dort halt überhaupt kein Bürger mehr nach 22 Uhr aufhalten.
Shock and awe, Kollateralschäden inklusive. Noch im April 1998 betonte Berns damaliger Polizeivorstand Kurt Wasserfallen (FDP), der Wegweisungsartikel werde nur gegen Junkies und Dealer angewandt. Zwei Monate später fassten die ersten Alkoholiker, die im Gebiet des Berner Hauptbahnhofs herumlungerten, ein Rayonverbot. Ebenso erging es bald Gruppen von braven Pilzsammlern, die unglücklicherweise dreckige Stiefel und Hände hatten. Weggewiesen wurden auch Gassenarbeiter und fromme Helfer der Kirchen, die mit Betreuungsarbeit vor Ort das Problem an der Wurzel packen wollten. Nach Beschwerden beim Verwaltungsgericht muss die Polizei den Artikel nun bedachter einsetzen; unter anderem legten die Richter fest, wie gross eine Ansammlung von Störenfrieden sei, damit sie unters Gesetz fällt: mindestens drei Personen. Das Urteil lässt ahnen, wie wenig die Hau-ab-Politik mit Effizienz zu tun hat. Ein Dealer, der mit einem Kunden ins Geschäft kommen will, muss ihn nicht fürchten.
Politiker sind gute Menschen
«Der Schwerpunkt der Polizei-Interventionen hat sich von ihrer kriminalistischen Aufgabe hin zur Aufrechterhaltung der Ordnung verlagert», sagt die Soziologin Karin Gasser, 28; sie hat eine Studie zur Berner Wegweisungspolitik verfasst. De facto finden die Gesetzeshüter nun eine Bestimmung als öffentliche Raumpfleger, sie kümmern sich um die Einhaltung von bürgerlichen Sekundärtugenden: Sauberkeit, Ruhe, Ordnung. An den tieferen Problemen ändert das nichts u2013 und trotzdem wird ein Grundrecht jedes Schweizers verletzt, festgeschrieben in Artikel 10 der Bundesverfassung: «Jeder Mensch hat das Recht auf persönliche Freiheit, insbesondere auf [...] Bewegungsfreiheit.»
Wen fürchtet der Staat da? Rentnerinnen, die ein Herz für Tauben haben? Zwölfjährige Fussballfans? Wer sind die Menschen, die unsere Behörden mit den Junkies oder Chaoten gleich mit vertreiben?
Eine Frau wie Brenda Bähler fällt zweifellos auf. Die 36-Jährige trägt Minirock, Netzstrümpfe, ihre schwarzen Haare sind verstrubbelt. Ihr Hund u2013 eine kurzbeinige Promenadenmischung, brav an der rosa Leine u2013 weicht nicht von ihrer Seite. «Er passt auf mich auf», sagt Bähler in breitem Berndeutsch. Ihre etwas dunkle Hautfarbe ist für einen Menschen in ihrer Lage zweifellos kein Vorteil. Die Mutter stammt aus Namibia, der Vater aus dem Kanton Bern. Seit sie die Schule verliess, schlägt sie sich auf eigene Faust durch. Schon mit 20 hatte sie zwei Kinder.
Seit ein paar Wochen lebt sie auf der Gasse; ihre Wohnung musste sie im Februar aufgeben: «Bevor ich in den Knast kam.» In Hindelbank verbüsste die Frau eine mehrmonatige Haftstrafe u2013 unter anderem wegen den Wegweisungen, die ihr die Berner Polizei jedes Mal aufbrummte, wenn sie die Frau am Bahnhof ortete. An diesem Treffpunkt der so genannten Randständigen trifft sie sich mit ihren Kumpels. «Alles Leute wie ich.» Da steht man zusammen, redet oder schweigt, trinkt oder schläft. Wartet, bis der Tag vorbei ist. «Drogen sind für mich kein Thema», betont Bähler. «Alkohol? Klar. Ab und zu ein Bier, um die Seele zu wärmen.»
Niemals konnten die Wegweisungen Bähler beeindrucken, immer wieder kehrte sie zurück an den Ort, wo sie ihre «Familie » trifft u2013 was der Sprecher der Stadtpolizei Bern bestätigt: «Frau Bähler», sagt Franz Märki, «hält sich an Orten auf, die für sie verboten sind.» Eine Wegweisung folgte auf die andere, irgendwann wurden Bussen daraus, die sie mit ihren 1000 Franken vom Sozialamt niemals hätte bezahlen können. «Es gab zwar Polizisten, die einem in Ruhe liessen», sagt Bähler. «Viele allerdings schikanieren dich.» Oft wurde sie schon in Handschellen abgeführt, musste die Nacht in der kalten Zelle verbringen, wurde dermassen unsanft traktiert, dass Ärzte Verletzungen behandeln mussten. Bähler hat Atteste gesammelt, die von den Misshandlungen zeugen. Doch sie hat resigniert. «Ich muss nur den Mund aufmachen, und mir wird vorgeworfen, dass ich lüge.» Schliesslich wandelte die Justiz die nicht eingehaltenen Wegweisungen, die unbezahlten Bussen in eine Knaststrafe um. Bähler musste nach Hindelbank. «Dort kostet ein Tag den Staat 200 Franken», sagt sie. Und schüttelt den Kopf.