Seite 1 von 1

Fankultur in England

Verfasst: 25.08.2006, 12:48
von Zanninho
Bild
Aus England kam der Fußball, und mit ihm auch alle grundsätzlichen Begriffe der Fankultur. England galt als das Maß aller Dinge. Doch mittlerweile deuten alle Anzeichen auf einen Niedergang. Stadionwelt sprach mit Dave Boyle von der Fanorganisation Supporters Direct.

Stadionwelt: Der englische Fußball hat sich seit Hillsborough sehr verändert. Zum Guten oder zum Schlechten?
Boyle: Es ist so wie im Leben, manche Veränderungen sind besser, manche schlechter. Natürlich sind die Stadien besser, doch sieht man sich an, wie manche Stadien vorher aussahen, war das nicht allzu schwer. Wenn man aber das ganze Bild betrachtet, dann ärgern sich die Fans am meisten darüber, zu sehen wer diese Veränderungen veranlasst hat. Nämlich genau die Leute, die jahrzehntelang gar nichts ändern wollten, was dann auch zu Sachen wie der Katastrophe von Hillsborough geführt hat. Die Verantwortlichen in den Führungsetagen der Klubs und beim Verband haben einen Haufen Geld für Veränderungen bekommen, sie haben es geschafft, die Atmosphäre zu töten, haben die Eintrittspreise erhöht und werden dafür auch noch als u201EVisionäreu201C bezeichnet. Das Fernsehen hat mehr Einfluss als je zuvor, Spieltermine werden hin und her geschoben. Und das Schlimmste sind Leute in den Clubs, die nicht an irgendetwas interessiert zu sein scheinen, was man mit Tradition in Verbindung bringen könnte. Leute, die der Meinung sind, dass alles seinen Preis habe und der Höchstbietende eben gewinnt. Es gibt natürlich auch Positives zu berichten: Faninitiativen sind besser organisiert und in vielen Clubs in die Arbeit eingebunden oder konnten ihn gar übernehmen. Aber insgesamt muss ich auch sagen, dass es nicht darum geht, ob jetzt etwas schlechter ist, sondern dass es besser sein könnte. Man wird schnell als jemand abgestempelt, der nichts verändern möchte oder die alten morschen, gefährlichen Stadien und die Gewalt wieder haben möchte.

Stadionwelt: Wie hat sich das Publikum verändert, und wie macht sich das in Bezug auf die Atmosphäre bemerkbar?
Boyle: Die größte Veränderung ist die Stille in den Stadien. Auch haben die Eintrittspreise dazu beigetragen, dass das Publikum u201Evergreistu201C. Die gleichen Fans, die 1996 zu den Spielen gingen, gehen heute auch noch, sind nur eben 10 Jahre älter geworden. Auch die Stimmung außerhalb der Stadien hat sich geändert. Es herrscht eine ungeheure Ernsthaftigkeit. Als es noch billig war, war es dir egal, ob du ein schlechtes Spiel gesehen hast. Du hast mit den Schultern gezuckt. Heute zahlen viele Fans 40 Pfund und rufen pausenlos bei Radiosendungen an, um empört den Kopf des Trainer oder eines Spielers zu fordern. Fußball sollte Spaß machen, aber hier nehmen die Menschen inzwischen vieles zu ernst.

Stadionwelt: Was ist im Moment das größte Problem für englische Fans?
Boyle: Zum einen die Tatsache, dass die Preise jedes Jahr über die Inflationsrate steigen, so dass es einen jedes Jahr mehr kostet, ein Fan zu sein. Dazu kommt, dass es von Jahr zu Jahr schwerer wird, einen fairen Wettbewerb aufrecht zu erhalten. Beides hängt unmittelbar zusammen. Die höheren Preise werden gebraucht, da der Verteilungsschlüssel der Fernseheinnahmen so unfair ist. Also nehmen es die Vereine von den Fans. Aber das wird nie genug Geld sein, für viele Vereine langt es gerade eben so zum mitspielen. Das geht natürlich nicht ewig so weiter. Irgendwann werden die Zuschauer merken, dass, egal wie viel sie zahlen, ihr Verein nie wirklich etwas erreichen wird.

Stadionwelt: Was ist mit den Fans, die sich nicht in den zahlreichen Kampagnen wie der u201EFootball Supporters Federationu201C, u201ESupporters Directu201C oder u201EStand up, sit downu201C engagieren?
Boyle: Es wird immer Leute geben, die mitmachen oder nicht. Es ist natürlich ein Problem, denn die Clubs fahren einen reinen marktwirtschaftlichen Kurs und sagen, wenn die Fans das alles nicht mehr möchten, könnten sie ja einfach aufhören hinzugehen. Und wenn sie das nicht tun, sagen die Vereine: u201EDann scheint es ja kein Problem zu geben.u201C Ehrlich gesagt, gibt es zu viele Fans, die denken, man kann nichts ändern, und zu viele sehen die Probleme gar nicht.

Stadionwelt: Gehen die Fans also zu unkritisch mit der momentanen Situation um?
Boyle: Engländer sind oft unkritisch oder tendieren dazu alles zu akzeptieren. Die ganze Idee, dass u201Eschon immer alles schlecht waru201C und u201EVeränderungen sowieso nichts bringen würdenu201C ist weit verbreitet. Wenn man denkt, dass man nichts tun kann und, egal was man tut, sich nichts verbessern würde, gilt hier nicht nur im Fußball. Man muss sich nur einmal unser Eisenbahnsystem ansehen. In anderen Ländern gingen die Menschen auf die Straße, hier werden sie depressiv und murren aber denken nicht daran etwas zu tun u2013 außer sich vielleicht ein Auto zu kaufen.

Stadionwelt: Warum ist das so?
Boyle: So sind wir eben. Hier gab es nie eine Revolution. Hier gibt es die Vorstellung, dass sich die Dinge nach und nach verändern, dass Dinge verbessern zu wollen u201Eunenglischu201C sei. Nonsens. Dazu kommt noch die Tatsache, dass die Presse zu selten über diese Dinge redet. Es geht nur um Spieler, Transfers, die Spiele und all das.

Stadionwelt: Wird man da nicht neidisch auf die Verhältnisse in anderen Ländern, wo es entweder besser ist u2013 oder die Fans wenigstens protestieren?
Boyle: Natürlich! Aber die Tatsache, dass so etwas passiert, heißt, dass das ein Beispiel sein muss, es auch zu machen. Wir können etwa nach Deutschland zeigen und sagen: u201EWarum sollten wir das nicht auch können?u201C

Stadionwelt: Stimmung vs. Erfolg. Was ist mit dem Konflikt zwischen denjenigen, die sich die u201Egute alte Zeitu201C zurückwünschen und denen, die sich freuen, das erste Mal seit 50 Jahren wieder den Titel geholt zu haben?
Boyle: Dieser Konflikt spielt natürlich immer eine Rolle. Aber auch Chelsea-Fans sind trotz des Titels auf die Palme zu bringen. Es gab zu Anfang der Saison einen kleinen, aber spürbaren Boykott eines Heimspiels als Protest gegen die Preisgestaltung. Des weiteren wächst die Erkenntnis unter den Fans, dass man nie etwas gewinnen wird, gehört man nicht zu den drei großen Clubs. Und in den unteren Ligen gibt es immer weniger Fans, die Erfolg um jeden Preis wollen, weil sie die mahnenden Beispiele vieler Clubs sehen, die in den letzten Wochen und Monaten beinahe Bankrott gegangen wären, da sie sich finanziell übernommen haben.

Stadionwelt: Was ist denn überhaupt noch typisch für die englische Fankultur?
Boyle: Die Meckerei. Nein, ich denke sie ist sehr geschwächt. Die Club-spezifischen, unverwechselbaren Gesänge werden immer weniger, viele Songs sind nur noch abgekupfert und austauschbar. Wir mögen immer noch harte Zweikämpfe und fordern Einsatz. Spielern, die nicht gut sind, aber alles geben, wird schnell verziehen, und die größte Sünde ist es immer noch, so aufzutreten, als würde man den letzten Einsatz vermissen lassen. (Stadionwelt, 28.03.2006)

In der aktuellen Ausgabe des Stadionwelt-Magazins (Ausgabe Nummer 17, April/Mai 2006) findet sich eine Bestandsaufnahme der Situation in England. Wie hat sich die Fankultur entwickelt? Was sind die aktuellen Themen? Neben einer allgemeinen Einschätzung findet sich auch ein Interview mit den Ultras von Leeds United über Ultra-Kultur in England sowie ein Blick auf die englische Fanzine-Landschaft.

Bild

Choreos nur bei Länderspielen: England u2013 Österreich in Manchester
http://www.stadionwelt.de/stadionwelt_fans/index.php?template=news&news_id=10