Kleiner Engel, eiskalt
Von Mike Glindmeier
Der HSV verliert seinen besten Spieler: Rafael van der Vaart wird den Club verlassen. Der "kleine Engel", wie ihn die Fans nennen, will in der Rückrunde trotzdem alles geben. Damit sichert er sich einen Platz im HSV-Museum u2013 und dem Verein einen zweistelligen Millionenbetrag.
Endlich ist es raus: Rafael van der Vaart wird seinen Vertrag beim Hamburger SV nicht verlängern (mehr...). Damit ist die Frage beantwortet, die die Hamburger während der kompletten Winterpause beschäftigt hat. "Mir ist das Nein sehr schwergefallen. Das HSV-Angebot war sehr gut, der Verein hat alles versucht, um mich längerfristig zu halten", sagte der niederländische Nationalspieler der "Bild"-Zeitung.
Obwohl man diesen Satz von nahezu jedem Topstar hört, der einen Verein verlässt, um bei einem noch größeren Club noch mehr Geld zu verdienen, klingt er aus van der Vaarts Mund glaubwürdiger als bei vielen seiner Kollegen. Denn hinter dem "kleinen Engel" - wie van der Vaart in Anspielung auf den "blonden Engel" Bernd Schuster genannt wird - liegen turbulente Monate, in denen der 24-Jährige besonders eines gezeigt hat: Charakterstärke. Viele Fans sprachen ihm genau diese Eigenschaft ab, als er im Sommer 2007 öffentlich einen Wechsel zum FC Valencia forcierte.
Tagelang provozierte van der Vaart damals seinen Rausschmiss, posierte sogar für eine spanische Zeitung im Valencia-Trikot. Einen Tag vor dem ersten Spiel der Uefa-Cup-Qualifikation zog er sich eine Rückenverletzung beim Hochheben seines Sohnes zu. Damals lag der Verdacht nahe, dass van der Vaart einen Einsatz im internationalen Wettbewerb für den HSV vermeiden wollte, da er bei einem Wechsel für seinen neuen Verein in europäischen Duellen gesperrt gewesen wäre.
Die Anhänger tobten, in den Hamburger Boulevardzeitungen ließen sich traurige VdV-Fans im Grundschulalter mit herunterhängenden Mundwinkeln ablichten und forderten das Geld für ihr Trikot mit der Nummer 23 zurück. Alles sah so aus, als wäre der Abgang nur noch eine Frage des Geldes. Doch HSV-Boss Bernd Hoffmann und Sportchef Dietmar Beiersdorfer blieben hart und ließen den Spielmacher nicht aus seinem Vertrag. Ein ebenso risikoreicher wie genialer Schachzug.
Nichtbeachtung statt Pfiffe
Van der Vaart kündigte an, sich trotz des geplatzten Wechsels in Hamburg voll reinzuhängen u2013 und hielt Wort. Die Schlüsselszene ereignete sich beim ersten Heimspiel der Saison gegen Bayer Leverkusen. Beim Verkünden der Mannschaftsaufstellung blieben die erwarteten Pfiffe gegen den Wechselwilligen aus, die Fans straften van der Vaart dafür mit Nichtbeachtung. Bis zur 64. Minute, als Schiedsrichter Herbert Fandel nach einem Handspiel auf Elfmeter für den HSV entschied: Der eiskalte Engel schnappte sich den Ball und verwandelte mit einem trockenen Linksschuss.
Spätestens zu diesem Zeitpunkt hatten ihm die meisten HSV-Fans verziehen. Damit war der Weg für eine vielversprechende Saison frei. Der harmoniebedürftige van der Vaart hat in der Hinrunde in 14 Spielen drei Tore vorbereitet und neun Treffer erzielt. Damit führt der beste HSV-Mittelfeldspieler seit Thomas Doll die Torjägerliste gemeinsam mit Bayerns Luca Toni und Miroslav Klose sowie dem Bremer Diego an.
Van der Vaart, der laut italienischen Zeitungsberichten auf dem Wunschzettel von Juventus Turin stehen soll, will in der Rückrunde an diese Leistungen anknüpfen: "Ich möchte für die tollen Fans eine Trophäe gewinnen und sie als Dank hierlassen." Ganz egal, ob der HSV einen Titel holt oder nicht: Im HSV-Museum hat er einen Platz in der Vitrine mit den Legenden wie Felix Magath, Kevin Keegan und Manfred Kaltz sicher. Boss Hoffmann darf sich zudem über eine Ablösesumme um die 20 Millionen Euro freuen, wenn er seinen Star bereits in diesem Sommer verkauft. Ein Jahr später würde er nur noch die vertraglich festgeschriebenen 1,5 Millionen bekommen.
Zürichs Chikhaoui möglicher Nachfolger
Auch wenn van der Vaart dem Verein einen neuen Transferrekord bescheren wird: Die Lücke, die er im Mittelfeld der Rothosen hinterlässt, wird nur schwer zu füllen sein. Aus den eigenen Reihen hat sich in den vergangenen beiden Jahren kein Spieler aufgedrängt. Piotr Trochowski sollte an diese Position herangeführt werden, bewies aber in den Spielen, in denen er van der Vaart vertrat, dass ihn diese Aufgabe hoffnungslos überfordert.
Daher ist es umso wahrscheinlicher, dass Beiersdorfer einen großen Teil der van-der-Vaart-Ablöse sofort wieder investieren wird.
Ein möglicher Kandidat ist Yassine Chikhaoui. Der 21-jährige Tunesier soll allerdings auch beim FC Bayern, in Bremen und in Leverkusen auf der Beobachtungsliste stehen. Die HSV-Verantwortlichen können sich schon bald ein Bild von dem Regisseur des FC Zürich machen. Im Februar treffen beide Teams zweimal im Uefa-Cup aufeinander.
Doch eine Entscheidung für oder gegen Chikhaoui wird nicht nur von seiner Leistung in diesen beiden Begegnungen abhängen. Entscheidend ist auch, welche taktischen Vorstellungen der Nachfolger des im Sommer ausscheidenden Huub Stevens hat. Der muss allerdings erst noch gefunden werden. Auf Hoffmann und Beiersdorfer kommt in den kommenden Wochen auf jeden Fall jede Menge Arbeit zu.
Spiegelonline